Medizinnobelpreis 1967: Ragnar Granit — Haldan Keffer Hartline — George Wald

Medizinnobelpreis 1967: Ragnar Granit — Haldan Keffer Hartline — George Wald
Medizinnobelpreis 1967: Ragnar Granit — Haldan Keffer Hartline — George Wald
 
Das schwedisch-amerikanische Wissenschaftlerteam erhielt den Nobelpreis für seine Entdeckung »auf dem Gebiet der primären physiologischen und chemischen Sehvorgänge im Auge«.
 
 Biografien
 
Ragnar Arthur Granit, * Helsinge (Finnland) 30. 10. 1900, ✝ Stockholm (Schweden) 11. 3. 1991; 1927 medizinische Promotion, 1928 Studienaufenthalt in Oxford, 1935 Professor für Physiologie in Helsingfors (Finnland), 1940 Professor für Physiologie am Karoliniska Institut in Stockholm.
 
Haldan Keffer Hartline, * Bloomsburg (Pennsylvania) 22. 12. 1903, ✝ Fallston (Maryland) 18. 3. 1983; 1927 medizinische Promotion, 1931 University of Pennsylvania, 1949 Professor für Biophysik an der Johns Hopkins University in Baltimore (Maryland), 1963 Wechsel an das Rockefeller Institute for Medical Research in New York.
 
George Wald, * New York 18. 11. 1906, ✝ Cambridge (Massachusetts) 12. 4. 997; 1932 Promotion an der Columbia University in New York, 1934 Tutor an der Harvard University in Cambridge, 1948 Professor für Biologie; prominenter Aktivist gegen Vietnamkrieg, Kernkraft und Wettrüsten.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Es dürfte nicht sehr häufig vorgekommen sein, dass zur Erklärung einer mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Forschungsleistung Kunstwerke herangezogen wurden; aber diesmal war es Pablo Picassos Maltechnik, die zur Erklärung der Vorgänge beim Sehen herangezogen wurde. »Für mich ist Malen eine Serie von Zerlegungen«, zitierte Carl Gustav Bernhard, ein Schüler von Ragnar Granit und Mitglied im Nobelkomitee, den Künstler zur Begründung der Preisverleihung. So wie Picasso in seinen Bildern das Dargestellte in Formen, Konturen und Farben zerlege, funktioniere auch das Sehen. Das menschliche oder tierische Auge analysiere Farben auf unterschiedlichen Kanälen und hebe Bewegungen oder Konturen besonders hervor. Der Preis zeichnete also ein weiteres Mal die Aufklärung der Funktionsweise eines Sinnesorgans aus und pries dabei eine Richtung der Malerei in der Moderne als geradezu sinnesphysiologische Kunst. Mit Ragnar Granit, Haldan Hartline und George Wald wurden drei Neurowissenschaftler ausgezeichnet, die zwar kaum gemeinsam gearbeitet, aber zusammen die Vorgänge beim Sehen im Auge entscheidend aufgeklärt hatten.
 
 Entfaltung des Vitamin-A-Moleküls
 
Wald entdeckte im Labor von Otto Warburg (Nobelpreis 1931) in Berlin Vitamin A als das Sehpigment im Auge, das von Paul Karrer (Nobelpreis für Chemie 1937) in Zürich, Walds zweiter Station auf seiner Europabildungsreise, gerade strukturell beschrieben worden war. Vitamin A und die Sehpigmente blieben lebenslang Walds Thema. Schon in frühen Versuchen konnte er zeigen, dass Vitamin A bei geschlossenem Auge ins Sehpigment Rhodopsin der Retina eingefaltet ist und dass bereits ein einziger Lichtblitz genügt, um es so zu strecken, dass es aus dem Pigment herausspringt. Die Entfaltung eines verknäulten Vitamin-A-Moleküls (Retinal) in eine gestreckte Form ist der lichtabhängige Grundprozess des Sehens, der Rest ist Chemie und chemische Elektrizität, »die auch im Dunklen abläuft«. Die Konformationsänderung des Retinals stellt den entscheidenden Aktivierungsschritt dar, durch den ein Lichtsignal in einen elektrochemischen Impuls umgesetzt wird. Wald beschrieb später die ganze Kaskade der fotochemischen Reaktionen in den Sehzellen.
 
 Das Farbenspektrum
 
Granit hatte bei Charles Sherrington (Nobelpreis 1932) mit John Eccles (Nobelpreis 1963) angefangen, zur Physiologie des Sehens zu arbeiten, und von Douglas Adrian (Nobelpreis 1932) die neuen elektronischen Techniken der Elektrophysiologie wie Kathodenstrahl-Verstärkung und oszillografische Darstellung gelernt. Er gehörte zu den ersten, die mit hauchdünnen Glaselektroden elektrische Potenziale aus einzelnen Nervenzelleinheiten ableiteten. Mit dieser Technik konnte er zeigen, dass die Sinneszellen für Farbwahrnehmung in der Retina sich auf drei Klassen mit je unterschiedlichem Absorptionsspektrum verteilen, dass also ähnlich dem Fernseher im Auge die verschiedenen Lichtfarben mit drei unterschiedlichen Farbkanälen, den Unterklassen der Zapfen, gesehen werden. Später zeigte Wald, dass jeder dieser Subtypen mit einem speziellen Farbpigment für die spezifische Absorption auf den Wellenlängen rot, grün oder blau arbeitet. Granit blieb nicht bei der Elektrophysiologie der Sehrinde, sondern beschäftigte sich auch mit der Funktion der Muskelspindeln bei der Kontrolle von Haltung und Bewegung durch regionale neuronale Netzwerke.
 
 Picassos Gemälde
 
Hartline begann im Labor des amerikanischen Biologen Detlev Bronk, wo damals gerade Granit psychophysiologische Experimente zum Sehen machte, den Morsecode der verschiedenen Nervenzellen in der Retina und insbesondere die Signale von den Nervenzellen zu untersuchen, die zwischen die Sehzellen und die Nervenfasern im Sehnerv geschaltet sind. Die Impulse, die das Auge ans Gehirn sendet, sind keineswegs die Rohdaten der Erregungen der verschiedenen Zapfen (für Farbeindrücke) und Stäbchen (für Helligkeitskontraste), sondern Resultat komplexer Datenverarbeitung in der Retina selbst. Hartline hat insbesondere die zentrale Rolle der Hemmung bei dieser Signalverarbeitung beschrieben, die genau dazu führt, dass das menschliche Auge nicht wie eine Kamera, sondern wie ein Gemälde von Picasso sieht, nämlich mit einer Akzentuierung von Bewegungen, Form- und Farbkontrasten. Der österreichische Physiker Ernst Mach hatte solche Phänomene der Kontrastverstärkung beim Sehen anhand psychophysiologischer Experimente bereits in den 1880er-Jahren beschrieben. Mit den elektrophysiologischen Methoden der 1940er-Jahre wurden deren neurophysiologische Grundlagen direkt beobachtbar. Obwohl der optische Apparat mit Linse, Lichtblende und Glaskörper wie eine Kamera aufgebaut ist und die Sehzellen darin analog zum Film mit Licht angeregt werden, funktioniert der Bildaufbau vollkommen anders und eher wie in einer Digitalkamera: Die verschiedenen Sinneszellen zerlegen das einfallende Licht in seine verschiedenen Farb- und Helligkeitsanteile, die getrennt verarbeitet und teilweise gegeneinander verrechnet werden. Eines der wichtigsten Resultate dieser Forschung war die Erkenntnis, dass im Auge nicht passiv die Lichtreize aufgenommen, sondern aus Lichtreizen aktiv ein Bild entworfen wird. Was vom Auge ans Gehirn als Codierung der optischen Signale gesendet wird, ist kein ebenmäßiges Abbild der Umwelt, sondern eine Interpretation der Sehzellenreize, ein konstruiertes Bild, das biologisch und psychologisch wichtige Aspekte besonders akzentuiert.
 
Die amerikanischen Neurophysiologen Jerry Lettvin und Warren McCulloch, der chilenische Neurobiologe Humberto Maturana und der amerikanische Mathematiker Walter Pitts fassten diese Forschungen 1959 in ihrem berühmten Aufsatz »What the frog's eye tells the frog's brain« (englisch; Was das Froschauge dem Froschhirn erzählt) zusammen. Wald fand in seiner Nobelpreisrede dafür die schlichten Worte: »Ich habe oft das Gefühl gehabt, dass meine Hände klüger sind als mein Kopf.«
 
C. Borck

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Liste der Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin — Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin wird seit 1901 jährlich vergeben und ist mit 10 Mio. Schwedischen Kronen dotiert. Die Auswahl der Laureaten unterliegt dem Karolinska Institut. Der Stifter des Preises, Alfred Nobel, verfügte in seinem… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”